Wenn alles nach Plan gelaufen wäre, hätte Marie Ulven – auch bekannt als die zarte Rock/Pop-Sensation girl in red – den größten Teil das vergangenen Jahres damit verbracht, vor neuen Fans in neuen Clubs zu spielen und auf der Fahrt von Stadt zu Stadt neue Landschaften zu bewundern. Denn sie wäre auf Tour gewesen. Aber wie vielen anderen auch machte COVID-19 ihr einen dicken Strich durch die Rechnung und so blieb sie in ihrer Heimatstadt Oslo und wandte sich den Rohfassungen einiger Songs zu, die noch aus dem Jahr 2019 stammten.
Elf Songs schrieb die insgesamt und nahm die Demos zu Hause auf. Kurz darauf lieh sie sich das Auto ihres Vaters und fuhr damit die acht Stunden von der norwegischen Hauptstadt nach Bergen, eine Stadt, die sich zwischen die majestätischen Nordseefjorde schmiegt, um dort ihr Debütalbum if i could make it go quietaufzunehmen, welches am 30. April 2021 erscheint. Stellt euch if i could make it go quietals die musikalische Essenz aus den Selbstgesprächen vor, die Ulven unterwegs führte: Es ist ein Album voller Gedanken, die wir gerne anderen mitteilen würden, stattdessen aber nur vor uns selbst aussprechen.
„Jedesmal, wenn ich das Studio in Bergen verließ, verbrachte ich Stunden damit, meine Tracks anzuhören und zu überlegen, was ich verbessern, an welcher Stelle ich noch feilen konnte“, erinnert sich die Künstlerin an ihre Fahrten durch die norwegische Wildnis. „Autofahren ist sehr heilsam. Man hat ein fantastisches Gefühl der Freiheit. Ich rede gerne mit mir selbst und so habe ich eigentlich meine Songs kaum angehört, sondern vor allem reflektiert und nachgedacht. Ich habe gelesen, dass es sogar gesund sein soll, Selbstgespräche zu führen. Also werde ich das wohl beibehalten. Aber speziell auf den Fahrten wird man komplett herausgerissen aus den ganzen Ablenkungen, denn man muss sich auf die Straße konzentrieren. Darum bekommt man ganz gut den Kopf frei.”
Mit ihrer ersten Single “i wanna be your girlfriend” etablierte sich Ulven 2017 als vielversprechendes, neues Talent. Fans auf der ganzen Welt fanden sich in ihren poetischen, Texten wieder, die sich manchmal hoffnungslos romantisch, manchmal schmerzhaft direkt in die sparsamen und gleichzeitig fesselnden Arrangements fügten, welche Marie selbst geschrieben und produziert hat. Anstatt ihre emotionalen Wunden von Trennungen und nicht erwiderten Gefühlen privat zu verarzten, entschied sich Ulven, damals noch eine Teenagerin, die gerade erst erwachsen wurde, den Heilungsprozess auf mehreren EPs und Singles mit ihrem wachsenden Publikum zu teilen.
Ulven hat sich extrem weiterentwickelt und man merkt, dass sie diesen Prozess noch lange nicht als beendet ansieht. Egal ob sie auf „Serotonin” mit FINNEAS (Popmastermind und Producer von Billie Eilish) zusammenarbeitet und dabei eine großartige Pophymne über ihre psychischen Probleme hervorbringt, oder auf dem finalen Track des Albums, „it would feel like this“, ihre Fähigkeiten als Musikerin zur Schau stellt – Ulven arbeitet ständig an sich.
„Auf diesem Album gibt es Dinge, über die ich bisher in meinen Songs nicht sprechen konnte“, sagt sie über if i could make it go quiet. „‘Serotonin’ ist brutal ehrlich. Es geht um Gedanken, die sich in deinen Alltag drängen, Gedanken wie „es wird mir niemals besser gehen“ oder „meine Therapeutin hasst mich“. Ich habe meine Therapie abgebrochen, weil ich dachte, dass ich meiner Therapeurin zur Last falle und dass sie mich nicht mag. Ich bin mir ziemlich sicher, dass viele Leute dieses Gefühl kennen, egal, ob es um eine Freundin geht oder ein Familienmitglied oder eben die Therapeutin. Ich habe über viele Themen geschrieben, über die ich bisher nicht gut reden konnte oder die ich mir selbst nicht eingestehen wollte. Über vieles konnte ich nicht mal mit sehr engen Freunden oder mit meiner Familie sprechen.“
Verrat, Lust, Sehnsucht, oder ihre Versuche, sich aus einer depressiven Phase zu befreien – nichts ist auf if i could make it go quiettabu. Ulven grübelt offen über alles nach und experimentiert dabei mit den Klängen, die sie ihrem Klavier und ihrer Gitarre zu entlocken im Stande ist. Auf „Body And Mind“ sinniert sie über die beschränkte, menschliche Existenz und ihre kompromisslose Akzeptanz dieser Beschränkung. Der Track fließt in Wellen über einen düsteren, elektronischen Groove. Auf „hornylovesickmess“ beschäftigt sie sich nicht ohne Stolz und mit optimistischen Akkorden mit der sexuellen Befreiung und erklärt auf „midnight love“, dass sie sich von einem nicht verfügbaren Partner mehr wünscht.
Die Liebe in all ihren unaufgeräumten Facetten ist eine sprudelnde Quelle der Inspiration auf if i could make it go quietund Ulven genießt es sichtlich, das Konzept des traditionellen Liebeslieds und seiner Ideen in Frage zu stellen. „Wenn man den Begriff ‘love song’ hört, hat man sofort ganz unschöne Assoziationen. Rührseliger Kitsch!“, sagt sie lachend. „Aber Liebe ist etwas so Großes und hat so viele Facetten! Ich finde, dass ich mich auf diesem Album mehr mit der hässlichen Seite der Liebe auseinandersetze. Auch Verwundbarkeit und das Zulassen von Verletzungen spielen eine Rolle. Darüber habe ich bis jetzt noch nicht geschrieben… [Das Album] ist ein großer, brodelnder Topf voller Gedanken und unausgesprochener Dinge.“
Es gibt viel, was wir aus dieser Auseinandersetzung mit sich selbst lernen können. Ulven hat sich kopfüber in dieses Vorhaben gestürzt und den Prozess immer bis zum bitteren Ende durchgezogen, auch wenn es weh tat oder sie am Ende mit mehr Fragen als Antworten dastand. Man kann sie sich gut vorstellen, im Auto zwischen Oslo und Bergen, wie sie sich „Rue“ anhört und an eine psychisch schwere Zeit zurückdenkt, in der sie war, als sie den Song schrieb; oder an die Freundschaft, von der sie sich mehr erhoffte und die den Song „You Stupid Bitch“ inspirierte.
if i could make it go quietist girl in red in ihrer reinsten und erhabensten Form: Ulven war noch nie mutiger und ihre Musik unterstreicht diesen Eindruck zusätzlich.
„In viele dieser Texte, eigentlich in das komplette Album, habe ich mein ganzes Herz ausgegossen”, sagt die Künstlerin.
